Zwischenbilanz
100 Tage Cannabis-Gesetz

Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit nunmehr 100 Tagen ist das neue Cannabis-Gesetz in Kraft und es ist an der Zeit, eine kleine Zwischenbilanz zu ziehen. Aufgrund der breiten medialen Berichterstattung stürmen Horden von Patienten die Arztpraxen in freudiger Erwartung einer Cannabinoid-Verschreibung. Da das Gesetz aber unglücklicherweise – zumindest nach meinem Dafürhalten – nun nicht nur die Verordnung von Fertig- und Rezepturarzneimitteln auf Cannabinoid-Basis ermöglicht, sondern auch die Verordnung von Blüten, hat sich auch die Patientenklientel dramatisch verändert.

Patienten mit falschen Intentionen abwimmeln
Waren die bisherigen Patienten, denen Cannabinoide verordnet wurden, im Schnitt doch eher älter und litten entweder an hoch chronifizierten, bislang nicht befriedigend einstellbaren Schmerzerkrankungen oder wurden gar palliativ behandelt, so sitzen uns nun immer häufiger zwanzig- bis dreißigjährige Männer gegenüber, die ihr mildes ADHS doch ganz gerne mit gerauchten Blüten auf Rezept in den Griff bekämen. Und auch ein Blick in die einschlägigen Foren offenbart die Problematik: Dort wird sehr freimütig darüber gechattet, ob man für eine Blütenverschreibung besser eine TIC-Störung oder chronische Rückenschmerzen als Beschwerden angeben sollte. Ich sehe ein Problem darin, dass wir Ärzte jetzt zwischen schwerkranken Patienten und jugendlichen Kiffern, die lediglich ihren Freizeitkonsum bezahlt und legitimiert haben möchten, differenzieren müssen – dazu ist mir meine Zeit eigentlich zu schade. Wir am Zentrum für Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie, Homburg, konnten den ersten Ansturm der Cannabis-Verordnungswünsche nur dadurch bewältigen, dass all unsere Mitarbeiter schon am Telefon deutlich klarstellen, dass bei uns definitiv keine Blüten verordnet werden.

Dreiste Fragebögen verärgern Ärzte und Patienten
Aber das ist nur ein Teil des Problems. Kommen wir zu den Krankenkassen. Schön ist es, wenn uns drei Wochen nach dem Antragseingang bei der Kasse an einem Freitagnachmittag ein mehrseitiger Fragebogen erreicht, der dringlichst bis zum nächsten Tag wieder bei der Krankenkasse beziehungsweise beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) sein soll, um Verzögerungen in der Entscheidungsfindung für den Patienten zu vermeiden. Die Dreistigkeit mancher Krankenkassen-Fragebögen ist außerdem einer besonderen Erwähnung wert. Hier wird zum Teil explizit nach der noch verbleibenden Lebenszeit der Patienten gefragt (zur Abschätzung der auf sie zukommenden Kosten), zum anderen wird immer wieder vom Antragsteller die Vorlage von entsprechenden Studien gefordert, die die Wirksamkeit von Cannabinoiden in der beantragten Indikation belegen.
Ich muss dazu sagen, dass ich noch keine Ablehnung für einen Patienten erhalten habe, ich kenne aber durchaus Kollegen, denen das passiert ist. Nichtsdestotrotz sind auch die Zusagen zumTeil hanebüchen. So wird die Gültigkeit zum Teil für drei bis sechs Monate formuliert, sodass nach Ablauf der Frist ein Nachantragsverfahren einzureichen ist. Oder es wird bei einem Kind, das sich überraschenderweise noch im Wachstum befindet und damit im Verlauf mit einer völlig natürlichen Gewichtszunahme zu rechnen ist, nur eine fest definierte Dosierung genehmigt. Im O-Ton des Zulassungsbescheides der Krankenkasse hieß es dann: „jedwede Abweichung von Ihrer eingangs beantragten Dosierung bedarf eines erneuten Antrages“. Und in einem Fall, den mir ein Kollege zugetragen hat, hat die Krankenkasse doch tatsächlich eine Cannabinoid-Therapie bei einem Kind abgelehnt mit dem unsäglichen Hinweis, dass bei Menschen unter 18 Jahren nicht genügend Sicherheitsdaten für eine Cannabinoid-Anwendung vorlägen und – Vorsicht, jetzt kommt die eigentliche Unverschämtheit – bei diesem schwerst mehrfach behinderten Kind wurde noch dazu angeführt, dass verschiedene andere Optionen, wie zum Beispiel eine intrathekale Baclofen-Pumpentherapie auf jeden Fall noch vorzuschalten wären.
Zusammenfassend lautet mein Fazit nach 100 Tagen Cannabis-Gesetz: Schade, dass die Medikamente auf Cannabinoid-Basis und die Blüten in einem gemeinsamen Topf gelandet sind und ebenso schade, dass sowohl die Krankenkassen als auch der MDK sich momentan wie aufgescheuchte Hühner verhalten und völlig kopf- und sinnlose Fragebögen herumschicken und ebenso sinnfreie Ablehnungs- beziehungsweise Zusagebescheide versendet.
Liebe Mitarbeiter der Krankenkassen und liebe Kollegen beim MDK, auch wenn Sie versuchen, uns unter Papierbergen zu begraben, wir werden mit Hilfe dieses neuen Gesetzes Cannabinoid-Therapien für die wirklich bedürftigen Patienten durchsetzen! Ob Ihnen das gefällt oder nicht.

Mit den besten kollegialen Grüßen
Prof. Dr. med. Sven Gottschling
Zentrum für Palliativmedizin und
2. Vorsitzender der DAGST e.V.

 


Dieser Beitrag erschien in der Zeitschrift Schmerzmedizin, Ausgabe 4/2017, veröffentlicht von www.springermedizin.de